Vorbei sind die Zeiten, an denen nahezu jede Berliner Straßenecke im Wedding, in Kreuzberg, Charlottenburg oder Prenzlauer Berg auch ihre Eckkneipe hatte. Feine Restaurants haben Einzug gehalten, indische, türkische, afrikanische oder arabische Küche ist zu finden, Shisha-Bars und Schnellimbisse bestimmen das Straßenbild. Einige Kneipen gibt es noch, die an alte Zeiten, zumindest an ältere Zeiten erinnern. Clemens Füsers, Schriftsteller, Bühnen- und Drehbuchautor, hat die ganz alten besucht und beschrieben, zahlreiche großformatige Fotos illustrieren seinen Band „Jahrhundertkneipen in Berlin“.
Schon vor 150 Jahren, so berichtet Füsers, „zog die höchste Kneipendichte Europas Besucher aus aller Welt an die Berliner Biertische“. „Die Berliner Kneipe“, so Füsers, „wurde zum Synonym einer unverwechselbaren Lebensart, und nirgendwo sonst manifestierte sich die von Tabak und Bierdunst geschwängerte Philosophie aus Herz und Schnauze.“
2011 erschien die erste Auflage des Bandes, zwei der damals vorgestellten Kneipen schafften es nicht bis zur 2. Auflage im März 2019, vier neue wurden aufgenommen. 17 insgesamt wurden für würdig befunden. Es ist eine persönlich gehaltene Auswahl, viele der aufgeführten Kneipen sind den meisten Berlinerinnen und Berlinern seit Jahrzehnten vom Namen her vertraut, auch wenn sie es noch nicht besucht haben. Nicht jedes traditionsreiche Stammlokal findet sich darin, das liegt dann daran, dass es doch jünger ist als es aussieht und vielleicht erst in der Zeit der Studentenbewegung entstand.
Auf 100 Jahre und mehr können eben doch nur wenige Kneipen zurückblicken. Gleich sechs sind es in Kreuzberg: Henne, Zur Kleinen Markthalle, Kuchen Kaiser, Max & Moritz, Yorckschlösschen und Destille. Immerhin vier sind es in Charlottenburg: Diener Tattersall, Mommsen-Eck, Wendel und das Anfang 2017 fast von der Schließung bedrohte Wilhelm Hoeck. In Mitte gibt es das Sophieneck und Zur Letzten Instanz, in Prenzlauer Berg die Bornholmer Hütte und das Metzer Eck, in Schöneberg Leydicke, in Wilmersdorf das Xantener Eck und in Köpenick die Restauration zur Gardestube.
Füsers liefert die Geschichte der Kneipen, erzählt von den Wirten und ihren mehr und weniger prominenten Gästen, von den Zapfern und Kellnern, es sind atmosphärisch dichte Schilderungen und ebensolche Fotografien, die von verschiedenen Fotografen eingefangen wurden.
Ergänzt wird der Band durch eine App, die zu ausgewählten Lokalen Videoporträts und Interviews liefert. Sie könnten allerdings, gibt der Verlag zu bedenken, den „Geschmack eines Frischgezapften nicht ersetzen“.
Clemens Füsers, Jahrhundertkneipen in Berlin, avedition; 2. Auflage März 2019, 176 Seiten, ISBN-13: 978-3899863093, 29,95 EUR