An der Nordseite des Rosa-Luxemburg-Platzes in Berlin-Mitte erhebt sich mit der Volksbühne ein Berliner Theaterbau, der wie kaum ein anderer für ein sich immer wieder neu erfindendes Theater steht.
Am Anfang stand eine Zeitungsnotiz. Im Berliner Volksblatt vom 23. März 1890 rief der Schriftsteller Dr. Bruno Wille theaterinteressierte Arbeiterinnen und Arbeiter auf, an der Gründung eines Vereins „Freie Volks-Bühne“ mitzuwirken. Gegen einen Vierteljahresbeitrag von 1,50 Mark sollte der Besuch von drei Vorstellungen möglich sein. „Läuft eine genügende Anzahl von Adressen ein, so ist ein Unternehmen gesichert, welches zur geistigen Hebung des Volkes etwas beitragen kann“, schrieb Wille.
Die Interessenten fanden sich, darunter ein Handlungsgehilfe, ein Tapeziermeister, ein sozialdemokratischer Redakteur, Schriftsteller und Kritiker. Am 29. Juli 1890 fanden sich zur öffentlichen Gründungsversammlung im Böhmischen Brauhaus an der Landsberger Allee fast 2000 Interessierte ein. In gemieteten Theaterräumen, dem Ostend-Theater in der Großen Frankfurter Straße, brachte der Verein Aufführungen auf die Bühne, die – da es sich um geschlossene Veranstaltungen handelte – nicht der preußischen Zensur unterlagen. Stücke von Ibsen nahmen breiten Raum im Repertoire ein.
Aber schon bald begann eine vereinsinterne Auseinandersetzung, die 1892 zur Spaltung führte. Während Wille und seine „unabhängigen Sozialisten“ auf die „geistige Hebung“ setzten und die Leitung des Vereins einem „Konsortium von Schriftstellern und Künstlern“ übertragen wollten, kam es seinem Gegenspieler, dem Schriftsteller und Historiker Franz Mehring, der von den organisierten Berliner Sozialdemokraten unterstützt wurde, eher auf ein klassenkämpferisches Theater an. Um Wille sammelten sich Vertreter des literarischen Berlin, die Mehrheit um Mehring verblieb im alten Verein. Zwar gab es eine enge Zusammenarbeit, aber erst 1920 vereinten sich die beiden Gruppen auch formal wieder.
Theater sollte kein Geschäft, sondern ein soziales Unternehmen sein, das „nur von der Gemeinschaft wesensgemäß organisiert werden kann“, so beschrieb der Dramatiker und Theaterkritiker Julius Bab, der von 1923–1932 die „Dramaturgische Blätter“ der Volksbühnenbewegung herausgab, die Aufgabe des Vereins.
Theater braucht aber auch einen Ort. Bruno Willes „Neue Freie Volksbühne“ pachtete 1910 erstmals ein Theater an der Köpenicker Straße, vier Jahre später wurde – als Gemeinschaftsprojekt der beiden Vereine – mit Mitgliedsbeiträgen das Theater am damaligen Bülowplatz – dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz – fertig gestellt. Auf einer Grundfläche von 3500 Quadratmetern wurde nach Plänen von Oskar Kaufmann für rund 4,5 Millionen Mark der modernste Theaterbau der Stadt verwirklicht. Rund eine Million Mark hatten Mitglieder aufgebracht, u.a. durch einen Zuschlag von zehn Pfennig auf jede Theaterkarte. Die Stadt Berlin stellte eine Hypothek über 2 Millionen Mark zur Verfügung. 2000 Plätze gab es im Rang, auf Logen wurde verzichtet, weil sie den demokratischen Ansprüchen der Volksbühne nicht entsprochen hätten. Modernste Theatertechnik zog ein, es gab eine senk- und hebbare Drehbühne, auch das Orchester konnte abgesenkt werden. Eröffnet wurde die neue Spielstätte mit Björnsons „Wenn der junge Wein blüht“, die ursprünglich geplante Aufführung des „Götz von Berlichingen“ musste wegen technischer Probleme mit der Drehbühne nachgeholt werden.
Inzwischen hatte der 1. Weltkrieg begonnen, viele Volksbühnen-Mitglieder mussten in den Krieg ziehen. Max Reinhardt pachtete das Theater am Bülowplatz zwischen 1915 und 1918 und brachte hier Inszenierungen aus dem Deutschen Theater auf die Bühne mit bekannten Schauspielern wie Emil Jannings, Ernst Lubitsch oder Eduard von Winterstein. Zudem gab es Konzerte. 1918 übernahmen die beiden Volksbühnen-Vereine wieder die Programmplanung.
Bei der Wiedevereinigung der beiden Volksbühnen-Vereine wurden Georg Springer, Curt Baake und Anton Wagner zu Vorsitzenden gewählt, Generalsekretär wurde Dr. Siegfried Nestriepke, der lange Jahre die Geschicke der Volksbühnenbewegung bestimmen sollte.
Der Versuch mit dem Umbau der ehemaligen Krolloper am Platz der Republik eine weitere Spielstätte für den Verein zu schaffen, scheiterte. Zwischen 1921 und 1923 wurde aber erneut das Neue Volkstheater an der Köpenicker Straße übernommen, geleitet von Siegfried Nestriepke. 1926 pachtete der Verein das Theater am Schiffbauerdamm.
In der Volksbühne am Bülowplatz machte sich von 1924 bis 1927 Erwin Piscator mit seinem anspruchsvollen politischen und proletarischen Theater einen Namen. Seine Arbeiten beeinflussten auch Bertold Brecht. „Piscators Idee vom ,Totaltheater‘ wurde hier geboren und steht bis heute als Konzept über dem Ganzen“, so stellt es die von Frank Casdorf geleitete Volksbühne 2017 rückblickend auf ihrer Internetseite fest. Mit Gret Palucca, Mary Wigman und Valeska Gert hatte aber auch der Ausdruckstanz einen festen Platz.
Der Verein durchlebte eine wechselvolle Geschichte. 1933 wurde die Volksbühne dem Goebbelschen Reichsverband Deutsche Bühne unterstellt, 1939 wurde der Verein von den Nazis aufgelöst, das Vermögen fiel an den Staat. Die Neugründung 1947 war schon von der Teilung der Stadt geprägt, in Ost-Berlin wird der Verein 1953 wieder aufgelöst.
Frühere Ensemble-Mitglieder der im Krieg ausgebrannten Volksbühne spielten nach Kriegsende unter der Leitung von Fritz Wisten am Theater am Schiffbauerdamm. In den Jahren von 1950 bis 1954 wurde die Volksbühne am Luxemburg-Platz – unter Verzicht auf den figürlichen Schmuck – wieder aufgebaut. Fritz Wisten übernahm mit seinem Ensemble die Bühne. Eröffnet wurde das Haus am 21. April 1954 mit „Wilhelm Tell“ von Friedrich Schiller. Die Volksbühne wurde zu einem Theater für die Hauptstadt der DDR, das aktuelle Gegenwartsstücke und modernes Regietheater auf die Bühne brachte.
Armin Mueller-Stahl und Erwin Geschonneck spielten hier, Heinz Kahlau und Günter Kunert lasen eigene Gedichte. In den siebziger Jahren kam Heiner Müller “Weiberkomödie“, ein Stück um Gleichberechtigung, auf die Bühne, 1980 wurde sein Stück „Der Bau“ uraufgeführt, inszeniert von Fritz Marquardt, der wie auch Benno Besson (Intendant von 1974/75 bis 1978/79) lange Jahre die Volksbühne prägte. Intendant bis zur Spielzeit 1989/90 blieb Dr. Fritz Rödel
In der Spielzeit 1990/1991 übernahmen Winfried Wagner, Marion van de Kamp und Annegret Hahn die Intendanz, Frank Castorf eröffnete die Spielzeit mit Schillers „Räubern“. Ab Januar 1992 lag die Intendanz in den Händen von Castorf, der zu den Vertretern des postdramatischen Theaters gerechnet wird, das aktuelle gesellschaftliche Themen aufgreift und elektronische Medien in die Darstellung einbezieht, aber anders als das traditionelle Sprechtheater Texte meist nur fragmentarisch aufgreift. Neben seinen eigenen Inszenierungen waren die von Christoph Schlingensief, Johann Kresnik und Christoph Marthaler profilbildend, zwischen 2011 und 2010 arbeitete Dimiter Gotscheff an der Volksbühne, später auch Herbert Fritsch und René Pollesch.
Als Nachfolger für den im Sommer 2017 scheidenden Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf hat der Berliner Senat den Belgier Chris Dercon ausgewählt, zuletzt Direktor des Londoner Museums Tate Modern und von 2003 bis 2011 Direktor am Haus der Kunst München. Der Wechsel hat heftige kulturpolitische Debatten ausgelöst. Dercons Kritiker werfen ihm vor, kein Theatermann zu sein und sie befürchten, er werde einen „Event-Schuppen“ aus der Volksbühne machen. Dercon selbst will neben dem Sprechtheater Tanz, Performance, Musik, Bildende Kunst, digitale Medien und Film miteinander in Verbindung bringen. Am Flughafen Tempelhof will er eine weitere Spielstätte mit 1000 Plätzen einrichten, eine mobile runde Bühne, die, so die Pläne des Architekten Francis Kéré, aus einem Hangar auf das ehemalige Flugfeld geschoben werden kann. Kéré hatte u.a. in Burkina Faso das Operndorf des Regisseurs Christoph Schlingensief errichtet. Weitere Spielstätten sollen der Prater und das Kino Babylon sein.
2017 lagen Lob und Verriss dicht beeinander. Mit„Pfusch“ in der Regie von Herbert Fritsch ist die Volksbühne Berlin beim Theatertreffen im Mai 2017 vertreten. Dagegen bewertet Dirk Pilz in der Berliner Zeitung die Aufführung von „König Lear“ als „zwei Stunden Qual“.
Der Widerstand gegen Dercon hielt an. Dercons erste Produktionen überzeugten allerdings auch wohlmeinende Kritiker nicht. Sinkende Zuschauerzahlen, ausbleibende Sponsorengelder und höhere Produktionskosten verschärften die finanzielle Situation an der Volksbühne. Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke), schon bei seiner Amtsübernahme Kritiker Dercons, beendete die Zusammenarbeit Mitte April 2018. Dercon wurde mit sofortiger Wirkung freigestellt, der gerade erst zum geschäftsführender Direktor der Volksbühne bestellte Klaus Dörr übernimmt die Intendanz auf Zeit.
Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Linienstraße 227, D-10178 Berlin, Kartentelefon: +49 30 240 65 777, Internet: https://www.volksbuehne-berlin.de/